"Ein Vorbild für die Amerikaner"

By: Peter Hahne
Die Welt, May 22, 2001

Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefökonom der Weltbank und frühere Leiter des wirtschaftspolitischen Beraterstabs Bill Clintons, spricht der deutschen Rentenreform wegen ihrer steuerlichen Anreize zum Sparen Modellcharakter zu. Er empfiehlt allerdings, die private Vorsorge verstärkt über staatlich kontrollierte Sammelkonten zu organisieren, um so das Kapitalmarktrisiko für ärmere Bevölkerungsschichten zu mindern.. 

DIE WELT: Herr Professor Stiglitz, was halten Sie von der jüngst verabschiedeten Rentenreform in Deutschland? 

Joseph Stiglitz: Ihr Arbeitsminister hat viel Mut bewiesen - er hat es geschafft, das Rentenniveau zu senken und zur gleichen Zeit hat er höhere Beiträge durchgesetzt . . . 

DIE WELT: . . . was für sich genommen ja kein Erfolg ist. 

Stiglitz: Der Erfolg Walter Riesters besteht darin, dass er den Einstieg in die private Altersvorsorge eingeleitet hat. Das hat in den großen Demokratien bislang praktisch kein Politiker geschafft. Auch die Vereinigten Staaten sind während der Clinton-Legislatur an dieser schwierigen Aufgabe gescheitert. Deutschland ist mit dieser Reform wirklich einen großen Schritt vorangekommen. Ich empfehle allen Rentenpolitikern, sich den Grundriss der deutschen Reform zum Beispiel zu nehmen. 

DIE WELT: Die Riester-Rente könnte also auch Vorbild für die Amerikaner sein? 

Stiglitz: Ja, sie hat durchaus Modellcharakter für die USA. Besonders die Kombination aus staatlicher Förderung niedriger Einkommen und Steuerbefreiungen für die Wohlhabenderen halte ich für sinnvoll. Die Sparquote in den USA ist sehr gering. Am wichtigsten ist dabei, dass die ärmeren Leute zum Sparen animiert werden. Das amerikanische Steuersystem gibt leider nur den Reichen Anreize, Geld auf die hohe Kante zu legen. Aber die Reichen sparen meist auch ohne Unterstützung des Staates. Entscheidend ist darum, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten zum Sparen bewegt werden. 

DIE WELT: Kritiker werfen der deutschen Regierung vor, dass der Einstieg in die Privatvorsorge zu zaghaft sei. Vom kommenden Jahr an wird eine Rücklage von einem Prozent des Bruttoeinkommens vom Staat gefördert, bis zum Jahr 2008 sollen es vier Prozent sein. Ist das zu wenig? 

Stiglitz: Nein, das sehe ich nicht so. Der Prozess der Ersparnisbildung für das Alter ist endlich in Gang gekommen. Der weitere Ausbau der kapitalgedeckten Rente hängt von einigen Faktoren ab, die wir heute noch nicht genau bestimmen können. Im Laufe der Zeit werden wir die Alterssicherungssysteme weiter an die demographische Entwicklung anpassen müssen. Dabei spielen die Entwicklung der Lebenserwartung und der Produktivität eine entscheidende Rolle. 

DIE WELT: Der Nobelpreisträger Franco Modigliani hält in den USA einen kompletten Umstieg auf eine kapitalgedeckte Vorsorge binnen 70 Jahren für wünschenswert und auch für möglich. Wie beurteilen Sie solche Vorschläge? 

Stiglitz: Ich bin da eher skeptisch, selbst wenn die Effizienz eines rein kapitalgedeckten System deutlich höher ist als die eines Umlageverfahrens. Wenn wir heute eine Ordnung für die Altersvorsorge am Reißbrett entwerfen könnten und von Null starteten, würde auch ich ohne Zweifel für ein rein kapitalgedecktes System votieren. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die Kapitalmärkte Risiken haben, genauso wie das Umlageverfahren. Im Grundsatz gilt, dass die Vor- und Nachteile beider Systeme in der gegenwärtigen Situation sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. 

DIE WELT: Welchen Anteil kapitalfundierter Vorsorge halten Sie langfristig für erstrebenswert? 

Stiglitz: Die Kapitalrente wird wegen der Alterung der Bevölkerung ohne Zweifel schrittweise weiter ausgebaut. Aber einen Zielwert zu nennen, macht wenig Sinn. Die Entscheidung, welchen Anteil der Altersvorsorge eine Gesellschaft über Umlagekassen oder einen Kapitalstock organisiert, ist in erster Linie keine ökonomische, sondern eine politische Frage . . . 

DIE WELT: . . . die die Deutschen aus Sicht eines Ökonomen richtig beantwortet haben? 

Stiglitz: Im Grundsatz ja. Schwierigkeiten sehe ich aber darin, dass Sie bei der Kapitalvorsorge auf individuelle Sparkonten setzten. 

DIE WELT: Weil es nicht die effizienteste Lösung ist? 

Stiglitz: Es ist nicht effizient, und es ist nicht fair. Private Konten verursachen höhere Transaktionskosten, vor allem für die Verwaltung, das ist der Effizienzgesichtspunkt. 

DIE WELT: Und warum ist es nicht fair? 

Stiglitz: Weil Arme bei der Altersvorsorge kein Risiko tragen können, Reiche schon. Konten, auf denen das Geld der Anleger gesammelt wird, haben den Vorteil, dass sich das Risiko der Einzelnen poolen lässt. Der Staat kann dafür geradestehen, dass alle Versicherten die gleiche Rente aus dem Kapitalstock bekommen. Bei Privatkonten nehmen wir in Kauf, dass sich die Rente nach der Expertise der Einzelnen am Kapitalmarkt oder nach Glück bemisst. 

DIE WELT: Der Staat soll also die Konten führen? 

Stiglitz: Er sollte die Rentenfonds überwachen, zumindest aber eine Art Benchmark-Fonds schaffen, an dem sich die privaten Anbieter messen lassen müssten. 

DIE WELT: Das hört sich nach mehr Bürokratie an. 

Stiglitz: Das stimmt. Aber Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die meisten Leute sehr schlecht über Geldanlagen informiert sind, also gar nicht die optimale Entscheidung für ihre Altersvorsorge treffen können. Ich meine, wir müssten ein wenig mehr Bürokratie in Kauf nehmen, um die Nachteile einer rein privaten Vorsorge in den Griff zu bekommen. Der Staat müsste meines Erachtens sogar noch weiter gehen: Wer sonst sollte die Leute gegen Inflation schützen? Wenn die Geldentwertung ein bestimmtes Maß übersteigt, sollte eine staatliche Garantie für Ausgleich sorgen. 

DIE WELT: Herr Stiglitz, wenigstens eine Generation muss die Transformation zu einer kapitalgedeckten Altersvorsorge bezahlen. Ist der Übergang überhaupt finanzierbar? 

Stiglitz: Natürlich ist die Belastung der Übergangsgeneration hoch. Aber das ist nicht vermeidbar. Darum habe ich gesagt, es ist ein Erfolg, wenn Walter Riester die Beiträge anhebt und die Leistungen einschränkt. Der Zeitpunkt für einen Übergang zur Kapitaldeckung ist gut. In Europa könnten die Erlöse aus der Privatisierung von Staatsbetrieben in einen Kapitalstock für die Rente fließen. Die Amerikaner sollten ihre Haushaltsüberschüsse hierzu verwenden. Darum halte ich es für einen riesigen Fehler, dass Präsident George W. Bush die Überschüsse allein zur Senkung von Steuern nutzt. 


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