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Das lange Sterben des Walter K.


Von: Martin Spiewak
Die Zeit, April 17, 2001

Wie der Wunsch nach einem würdigen Lebensende im Räderwerk von Krankenhaus, Pflegeheim und Gerichten untergeht.

Im Zimmer riecht es nach Creme. Ein Radio spielt Klassik. Damit es nicht so still ist. Kann Walter K. die Musik hören? Er liegt unter einer Bettdecke, der Körper flach und hart wie ein Brett. Seine Fäuste stehen im 90-Grad-Winkel von den Armen ab. Zwischen den Fingern steckt ein Waschlappen, damit sich die Nägel nicht ins Fleisch graben. Die Nase ragt nach oben, den zahnlosen Mund hat Walter K. aufgerissen. Ein weißer Pelz bedeckt die Zunge. Mitunter stößt er röchelnd ein paar Laute aus. Wenn das Röcheln zum Brodeln wird, weiß die Schwester, dass sie Schleim absaugen muss.

Walter K.s Arme und Beine sind gelähmt, große Teile seines Gehirns sind zerstört. Nur ab und zu öffnet er die Augen und lässt sie in verschiedene Richtungen gleiten. Doch er atmet, und sein Herz schlägt langsam und gleichmäßig.

Schaltet man das Radio ab, hört man das Pumpen, das Walter K. am Leben hält. Über einen Schlauch drückt ein Motor Nahrung in seinen Körper. Eine milchkaffeebraune Masse fließt aus einem Beutel durch ein Loch in der Bauchdecke direkt in den Magen. Über einen zweiten Schlauch fließt Urin aus der Blase ab. 12 Kartons der kaffeebraunen Sondernahrung stehen im Schrank. Darüber liegen auf einem Bord fünf aufgeschnittene Polohemden. Sie sind das Einzige, was Walter K. noch braucht. Der Bürokalender neben dem Bett ist ohne Eintrag.

Walter K. hatte genaue Vorstellungen von den Dingen, den kleinen wie den großen. "Man muss aus seinem Leben etwas machen" hieß einer seiner Grundsätze. Eine gehobene Position in der Firma, 42 Ehejahre, vier Kinder, ein Haus mit Garten - Walter K. hat aus seinem Leben etwas gemacht. Als er vor fünf Jahren in Rente ging, wussten alle: Der bleibt jetzt nicht zu Hause sitzen. Jeden Morgen um sechs stand er auf und fuhr vor dem Frühstück mit seiner Frau zum Schwimmen. Zweimal im Jahr ging es in den Urlaub. Australien, Südafrika, USA, stets ohne Reisegruppe, alles minutiös geplant.

Ja, Walter K. war ein ordentlicher Mensch, der kluge Gedanken schätzte, Gefühlen misstrauisch gegenüberstand und nur ungern etwas dem Zufall überließ, im Leben wie im Sterben. Der Tod war ihm vertraut. Eine Freundin starb an Parkinson, eine Schwägerin an Krebs, die Schwiegermutter lag in den letzten Monaten ihres Sterbens im Koma. Seine eigene Mutter, ebenfalls von Krebs zerfressen, verbrachte ihre letzten Wochen nicht im Krankenhaus, sondern bei den K.s zu Hause.

Herr über seinen eigenen Tod zu sein, dieses Recht wollte auch Walter K. für sich in Anspruch nehmen. Deshalb verfasste er am 19. Februar 1999 eine Patientenverfügung und setzte seine Unterschrift unter folgende Sätze: "Für den Fall, dass ich unwiederbringlich nicht mehr in der Lage sein sollte, meinen Willen auszudrücken, verfüge ich im jetzigen Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass an mir keine sterbeverlängernden Maßnahmen durchgeführt bzw. bereits begonnene abgebrochen werden, sofern ich für den Rest meines Lebens unumkehrbar bewusstlos sein sollte." So hatte er es in der ZEIT gelesen. 

Der Fall ereignete sich schneller als gedacht. Sechs Wochen danach, im Urlaub in Portugal, fand ihn seine Frau nachts auf dem Boden krabbeln und sich übergeben. Das Hotelpersonal dachte, er sei betrunken. Kurze Zeit später rührte er sich nicht mehr. Die Ärzte diagnostizierten eine Bewusstlosigkeit als Folge einer Hirnhautentzündung.

Doch die Patientenverfügung hat Walter K. bis heute nichts genutzt. Drei Prozesse wurden in der Sache K. geführt. Vier medizinische Gutachten eingeholt. Walter K. aber darf nicht sterben.

Ehefrau Ellen K. 

Am Anfang hatte sie noch Hoffnung. Ellen K. meinte, die deutschen Mediziner könnten mehr erreichen als ihre portugiesischen Kollegen. Nach ein paar Tagen nahm ihr ein Professor in der Universitätsklinik jede Hoffnung. Im Stehen zwischen Tür und Angel hob er ein paar Abbildungen des Gehirns ihres Mannes gegen das Licht, zeigte auf verschiedene dunkle Areale und sagte: "Das ist kaputt. Das ist kaputt. Das ist kaputt." Walter K. leide unter einem apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt. Er werde wohl niemals wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen.

In den ersten Tagen im Krankenhaus war noch von Rehabilitation die Rede gewesen. Dann hieß es nur noch, man müsse ein Pflegeheim finden. Eine Schwester warnte Frau K.: Geben Sie Ihren Mann nicht ins Heim, sagte sie, Sie bekommen ihn nie wieder heraus. "Wir hörten nicht auf ihren Rat. Das war unser größter Fehler." 

Als Frau K. das Schreiben ihres Mannes vorlegte, sagten die Ärzte, es zähle in diesem Fall nicht. Walter K. sterbe schließlich nicht, sondern brauche nur künstliche Ernährung. Dafür bräuchten sie die Erlaubnis, eine Magensonde legen zu dürfen. Und wenn ich mich weigere?, fragte Ellen K. Dann wird er eben über die Nase ernährt, sagten die Ärzte. Das sei das Gleiche. Die Antwort war falsch, aber Frau K. wusste es nicht und gab ihre Unterschrift.

Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass sie sich übergangen, entmündigt, bevormundet fühlte. Behandlungen ohne Zustimmung, falsche Abrechnungen, nicht weitergegebene Arztbriefe. Vor kurzem wurde Herrn K. ein Stoppelhaarschnitt verpasst, um das Haarewaschen zu erleichtern. "Er hätte das nie gewollt", sagt sie. Und wenn er wüsste, wie Schwestern ihm manchmal die Wange tätscheln, wie einem Kind, sagt sie und schüttelt sich: "Er hätte sich geekelt."

Stets waren die K.s auf Unabhängigkeit bedacht, weder lagen sie jemals im Krankenhaus noch standen sie vor Gericht. Doch nun musste Ellen K. erleben, wie Ärzte, Pfleger, Richter über das Schicksal ihres Mannes entschieden und seinen wichtigsten Wunsch ignorierten. "Er wollte nicht so dahinvegetieren und hat das schriftlich bezeugt. Warum akzeptiert das niemand? Wie ist das möglich in einem Rechtsstaat?" 

Jeden zweiten Tag besucht Ellen K. ihren Mann im Heim. Sie streicht ihm kurz über das Gesicht, schlägt die Decke zurück und schaut, ob er sich durchgelegen hat. Dann geht sie wieder. Nicht ein Foto hat sie auf den Nachttisch gestellt, statt Blumen steht Plastik in der Vase. Am Anfang hatte sie ihm seine Musik vorgespielt: "Benny Goodman und solche Sachen." Und ihr Parfüm mitgebracht. Doch er reagierte nicht, ebenso wenig auf Rufen und Streicheln. Nun hält sie ihm manchmal kurz die Nase zu, damit er wenigstens irgendetwas macht. Dann seufzt er auf. 

Meist bleibt sie nur kurz, oft nicht länger als zehn oder zwanzig Minuten. Eine Kontrollvisite, kein Besuch bei dem Mann, den sie geliebt, bewundert hat und mit dem sie 40 Jahre lang das Leben teilte. Der ist irgendwann in jenen Tagen nach dem 8. April 1999 in Portugal verschwunden. 

Nur trauern kann sie nicht. Dafür wird sie bei jedem Besuch an seinen letzten Wunsch erinnert. Wie einen lebenden Vorwurf sieht sie ihren Mann dort liegen, der zu sagen scheint: "Du kannst meinen letzten Willen nicht erfüllen." Mitunter fleht sie zurück: "Bitte höre auf zu atmen."

Heimschwester S. 

Zuerst habe sie Frau K.s Wunsch, dass ihr Mann sterben soll, nicht verstanden, sagt Schwester S. Warum lässt sie ihren Mann nicht in Ruhe weiterleben, habe sie gedacht, und genauso dächten noch immer viele im Haus. Aber dann hat sie mit Frau K. gesprochen und sie verstanden. "Heute wünsche ich es ihm, dass er sterben kann." Doch zu diesem Können dürfe das Heim nichts beitragen. "Wir machen nur die Pflege."

Walter K. wird wie im Lehrbuch gepflegt. Er liegt auf einer beweglichen Luftmatratze, die Druckstellen verhindern soll. Alle zwei Stunden kommt eine Schwester ins Zimmer und legt ihn auf die andere Seite. Jedes Umbetten bezeugt sie mit einer Unterschrift, damit sie es nicht vergisst. Zweimal am Tag wird Walter K. gewaschen. Alle sieben Tage gebadet. Alle drei Tage bekommt er ein neues Morphiumpflaster, dreimal am Tag Tee und SN, Sondennahrung. So steht es auf einer Karteikarte, die an dem Pumpengerät hängt. 6 Uhr SN, 10 Uhr Tee, 13 Uhr SN, 16 Uhr Tee, 19 Uhr SN, 22 Uhr Tee. Dann ist der Tag vorbei. 

Patientenverfügung - das Wort steht blau markiert auf Walter K.s Akte, für jedermann gut sichtbar. Auch Heimbesitzerin M. hat eine solche Verfügung geschrieben. "Wenn man das so sieht, dass die gar nichts zählt, wenn man sterben will", sagt sie. "Das ist schlimm. Aber wir dürfen nichts machen."

Zurzeit liegt eine alte Frau im Altenheim, die sich vorgenommen hat, zu sterben, erzählt Schwester S. Sie isst nicht mehr und trinkt nicht mehr. Man habe versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Vergeblich. Sie wollte nicht mehr. Jetzt tupfen die Schwestern nur ab und zu den Mund etwas feucht ab. "Wir respektieren ihren Willen."

Und wenn nun die Nachricht komme, auch Walter K. brauche nicht mehr ernährt zu werden? "Dann können wir Herrn K. nicht hier behalten", sagt Schwester S. und schüttelt den Kopf. Jeden Tag gehen die Schwester ins Zimmer, waschen und betten ihn, und irgendwann heißt es, er soll verhungern? Das gehe schließlich nicht sofort, dauert eine Woche, vielleicht zwei. Aber es war doch sein Wille? "Ja, aber wir müssen uns selbst schützen, wir haben auch eine Seele." Frau K. hätte ihn gleich vom Krankenhaus nach Hause holen sollen. Aber nun, da er mal da ist ... "Wir sind nur die ausführenden Organe."

Hausärztin L. 

"Herr K. kann noch viele Jahre leben", sagt die Hausärztin. Er habe ein gutes Herz und einen stabilen Kreislauf. Vor ein paar Jahren hätte ihm seine robuste Natur nur wenige Monate genutzt. Patienten im Koma wurden mit einem Schlauch über die Nase ernährt. Zwangsläufig gerieten Bakterien in den Körper, es kam zu Infektionen, Lungenentzündungen. "Herr K. wäre längst tot." 

Eine PEG-Sonde dagegen, wie sie Herr K. trägt, arbeitet keimfrei und komplikationslos. Früher wurden die Sonden zur so genannten Percutanen Endoskopischen Gastrostomie (PEG) nur im Krankenhaus eingesetzt. Heute findet man PEG-Patienten in fast jedem Altenheim. Vor allem Demente lassen sich per PEG nahezu problemlos ernähren. Über Jahre. Rund 100 000 Patienten bekamen 1999 eine PEG gelegt, mehr als die Hälfte ohne ihre Einwilligung. 

Für viele Wachkomapatienten bedeutet die Magensonde einen medizinischen Fortschritt. Einige tausend Fälle zählt man in Deutschland, und vor einigen Jahren dachte man noch, sie wären lebende Tote ohne Aussicht auf Besserung. Heute weiß man es besser. In mühevoller Therapie - durch Berührungen, Ansprache, Musik - versucht man mit den Apallikern Kontakt aufzunehmen. Ihre Rehabilitation ist schwierig und dauert lange. Doch mitunter gelingt es, sie Stück für Stück ins Leben zurückzuholen. Fortschritte sind vor allem bei jungen Patienten möglich, die nach einem Unfall ins Koma gefallen sind und sogleich behandelt werden. Solchen Kranken die PEG-Sonde wegzunehmen, bezeichnen Angehörige und Ärzte daher auch als Mord. 

Walter K. ist 70 und besitzt solche Chancen nicht mehr. Das hat das Gutachten einer Rehaklinik für Wachkomapatienten bestätigt. Große Teile seines Gehirns seien erloschen, die Augenbewegungen bloße Reflexe. "Das Letzte, was wir ihm wünschen, wäre, dass sich sein Befinden etwas verbessert, sodass er selbst merkt, in welchem Zustand er ist", sagt der Neurologe. 

Für Walter K. bedeutet die PEG-Sonde eine Verlängerung seines Sterbens. Auf eine maschinelle Beatmung darf der Arzt verzichten, wenn sie nur das Leiden verlängern würde. Eine künstliche Niere darf er abstellen, wenn der Patient sterbenskrank ist und keine Besserung in Sicht ist. Denn passive Sterbehilfe ist erlaubt und wird jeden Tag praktiziert. Die Magensonde jedoch zählt laut den Richtlinien der Bundesärztekammer nicht zur intensivmedizinischen Behandlung. Sie ist Hilfe zur Ernährung und gehört damit zur Basispflege, wie Waschen oder Betten. Auf sie hat jeder Patient, egal in welchem Zustand, ein Recht - und eine Pflicht.

"Wer die PEG abstellt, lässt den Patienten verhungern", sagt die Hausärztin. Wenn Walter K. eine Lungenentzündung bekommt, könnte sie darauf verzichten, Antibiotika zu geben. Wenn die PEG kaputt geht, würde sie dafür kämpfen, dass keine neue gelegt wird. Wollte sie jedoch die künstliche Ernährung abbrechen, hat sie Angst, sich strafbar zu machen. Was also müsste geschehen? Frau K. müsste ihren Mann nach Hause holen, sagt die Ärztin. "Stirbt Herr K. dort, würde ich einen Teufel tun, beim Ausstellen des Totenscheins irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen."

Richterin N. 

Einmal hat Frau K. es versucht. Im Herbst 1999 kündigte sie an, sie wolle ihren Mann von jetzt an zu Hause pflegen. Da rief das Heim das Amtsgericht an. Im Eilverfahren entzog die Richterin ihr die Betreuung für ihren Mann. Es war die gleiche Richterin, die sich kurz zuvor geweigert hatte, den Abbruch der künstlichen Ernährung zu genehmigen. "Wer gibt mir das Recht, zu entscheiden, ob ein Mensch leben oder sterben soll?", hat sich Richterin N. damals gefragt und, wie es sich für eine Richterin gehört, ins Gesetz geschaut. Die Antwort, die sie fand, hieß: Niemand. 

Andere Juristen sind zur gegenteiligen Meinung gekommen - zum Beispiel jene des Bundesgerichtshofs. 1994 hatte der BGH im so genannten Kemptener Urteil über einen ähnlichen Fall zu entscheiden. Ein Sohn wollte die künstliche Ernährung seiner schwer hirngeschädigten Mutter einstellen lassen und verständigte sich damals mit ihrem Arzt, der Frau nur noch Tee zu geben. Der BGH hielt das Ansinnen für rechtmäßig. 

Eine Behandlung dürfe auch dann abgebrochen werden, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht eingesetzt habe. Wichtig sei allein der Wille des Patienten. Mit aktiver Sterbehilfe habe das nichts zu tun. Das BGH ging noch einen Schritt weiter: Selbst wenn keine Patientenverfügung vorliege, sei etwa ein Abbruch der Ernährung möglich, wenn der Patient zu Lebzeiten Ähnliches geäußert habe. Zu prüfen habe dies das Gericht, das auch sonst für Vormundschaftsfragen zuständig ist, in der Regel das Amtsgericht eben.

Das Urteil und seine Begründung waren ein Fanal im ewigen Streit zwischen Selbstbestimmungsrecht des Patienten und dem unbedingten Wert des Lebens. In der Praxis jedoch änderte sich nichts. Bis heute hat nur das Amtsgericht Oberhausen ein einziges Mal den Abbruch einer künstlichen Ernährung genehmigt. In allen anderen Fällen verhielten sich die Richter wie Amtsrichterin N.: Sie erklärten sich für nicht zuständig. "Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, die letzte Schranke zu lösen."

Eine Rechtslücke also, die es im Interesse der Betroffenen zu schließen gilt, möchte man meinen. Doch davon will man beim zuständigen Ministerium in Berlin nichts wissen. Patienten hätten bereits heute das Verfügungsrecht über die letzte Phase ihres Lebens, sagt Justizministerin Herta Däubler-Gmelin. Was das Gesetz regeln müsste, sei geregelt. Die unausgesprochene Angst lautet: Jede Bestimmung, die explizit klärt, wer unter welchen Umständen über das Ende eines Lebens bestimmen darf, wäre ein Schritt in Richtung Holland.

Gerichte, die nicht selbst die Entscheidung treffen müssen, sagen, man darf entscheiden; Gerichte, die entscheiden müssten, entgegnen, man dürfe es nicht; und die Politik behauptet, es gebe keine Probleme. Diese gegenseitige Blockade der Rechtsorgane scheint der Amtsrichterin N. jedoch nicht unrecht zu sein. Denn niemals könne man mit Sicherheit wissen, was Patienten wie Herr K. wirklich wollten. Als er die Patientenverfügung ausfüllte, sei er schließlich gesund gewesen. Außerdem lässt Walter K.s letzter Wille Raum für Interpretationen. Was heißt "sterbeverlängernde Maßnahmen"? Was meint er genau mit "unumkehrbar bewusstlos"? Die PEG-Sonde wird in der Verfügung nicht erwähnt. "Vielleicht denkt er heute ganz anders darüber, vielleicht ist er ja glücklich", sagt Richterin N.

Wenn Frau K. solche Sätze hört, hasst sie die Richterin.

Anwalt R. 

Er hat den Fall Walter K. zur persönlichen Sache gemacht. Er hat medizinische Fachbücher gekauft, englische Aufsätze zu den Fortschritten der Neuromedizin kopiert. "Man sieht sich ja immer selbst da liegen", sagt Anwalt R. "Oder die Mutter oder den Vater."

Zwei vergebliche Verfahren hat er in der Sache K. angestrengt, erst vor dem Amtsgericht, dann vor dem Landgericht, das die Entscheidung der Richterin N. bestätigte. Er könnte in die nächsten Instanzen gehen, dort vielleicht ein Urteil erwirken, das beispielhaft ist und die Rechtsunklarheit beendet. Doch das hieße erneute Prüfungen, Anhörungen und Befragungen, weitere Gutachten. Zudem würde es bis zur Entscheidung Jahre dauern - ohne Garantie, dass die Richter in seinem Sinn entscheiden. "Wie Mediziner sind viele Richter verantwortungsscheu." Rechtsanwalt R. weiß das recht gut, denn er war 30 Jahre lang selbst einer.

Einen neuen Prozess will er Frau K. nicht zumuten. Stattdessen hofft er, die Sache "unauffällig zu lösen". Denn das Landgericht hat zwar das Urteil der Richterin N. bestätigt, Frau K. jedoch wieder als Betreuerin eingesetzt. Sie sei am besten geeignet zu erwägen, heißt es in der Urteilsbegründung, ob es dem Willen ihres Mannes entspricht, die "künstliche Ernährung mittels Nahrungssonde einzustellen und ihn verhungern zu lassen." Ein Wink: Wir Richter können nicht entscheiden, die Ehefrau vielleicht. Anwalt R. hat sich erkundigt, wie so etwas in den meisten Fällen funktioniert. Die Ernährung wird langsam zurückgefahren, die Dosis Schmerzmittel erhöht. Nur ein Arzt muss mitspielen.

Vor kurzem wurde ein solcher Fall von dem Anwalt Wolfgang Putz erfolgreich durchgefochten. Ein Arzt hatte einer auf 26 Kilo abgemagerten Frau nach sechs Jahren Koma die PEG entfernt - im Einverständnis mit Angehörigen und Pflegeheim. Medikamente stellten die Frau schmerzfrei, nach sieben Tagen starb sie. Noch am Todestag erfolgte eine anonyme Anzeige. Doch die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Es habe sich nicht um eine Tötung gehandelt, so die Staatsanwaltschaft. Der Arzt habe nur dem Willen der Patientin entsprochen. Sein Handeln war nicht nur erlaubt, sondern geboten. "Wir dürfen nicht fragen, ob wir aufhören dürfen, wir müssen fragen, ob wir weitermachen dürfen." So hat der Jurist Jochen Taupitz die Rechtslage auf dem Deutschen Juristentag des vergangenen Jahres zusammengefasst.

Die Debatte, ob man holländische Verhältnisse auch in Deutschland brauche, halten Juristen wie Putz daher für überflüssig. Die Palliativmedizin und das deutsche Recht böten für alle denkbaren Fälle ethisch vertretbare Lösungen. Nur wissen es die wenigsten Ärzte, Pfleger, Patienten und Angehörigen - oder es fehlt ihnen der Mut.

Auch Frau K. hat Angst und die Hausärztin ebenso. "Wir werden beobachtet", sagt sie. Jemand könnte sie anzeigen. Eine Untersuchung würde folgen, eventuell ein Prozess. "Das stimmt", sagt Anwalt R. "Doch wahrscheinlich würde sie freigesprochen." Sicher wäre: Walter K. hätte seinen Willen.