Und ewig lockt das Ruhegeld

Von: Marc Brost, Marie-Louise Hauch-Fleck und Marcus Rohwetter
Die Zeit, May 18, 2001

Rentnerfang

Illustration: Gerhard Glück für DIE ZEIT

 

P R I V A T E R E N T E

Kaum ist die Rentenreform verabschiedet, macht die Finanzbranche Druck. Aber Vorsicht: Die Angebote zur Altersvorsorge sind tückisch

Wer hofft, im Internet unter www.riester-rente.de offizielle Informationen zur neuen Altersvorsorge zu finden, liegt falsch. Nicht der Bundesarbeitsminister verbirgt sich hinter der Adresse, sondern die LVM-Versicherung. "Jetzt starten!", lockt das Unternehmen, denn: "Warten lohnt sich nicht." Schließlich werde Monat für Monat ärmer, wer sich nicht sofort eine private Rentenversicherung zulege.

Seit der Bundesrat am Freitag vergangener Woche die Rentenreform endgültig abgesegnet hat, rollt eine gigantische Werbekampagne übers Land. Banken, Versicherer und Fondsgesellschaften bekleben die Litfaßsäulen der Republik, legen Broschüren in Magazine und Zeitungen. Und sie haben einen Begriff erfunden, der Arbeitnehmer für ihre Botschaft empfänglich machen soll: die "Riester-Lücke", die zum Vorsorgen nicht nur einlädt, sondern geradezu zwingt.

Allerdings: Wer sich jetzt Angst einjagen lässt und den erstbesten Vertrag unterschreibt, der könnte am Ende der Dumme sein.

Noch ist nicht einmal klar, welche der unzähligen Produkte vom kommenden Jahr an überhaupt staatlich gefördert werden. Bis jetzt gebe es keinen einzigen Finanzdienstleister, der förderfähige Verträge anbieten kann, warnt die Stiftung Warentest. Der Grund: Die neue Zertifizierungsstelle beim Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen, die per Siegel bestätigen soll, dass eine Versicherung oder ein Fonds die vorgeschriebenen Kriterien erfüllt, lässt noch auf sich warten. Zu den derzeit rund 320 Mitarbeitern der Behörde werden sich 70 weitere gesellen, die den Angeboten den Stempel "förderungsfähig" aufdrücken. Frühestens von Juli an können die Anbieter ihre Anträge einreichen.

Es sei schon "eine unübliche Vorgehensweise", dass die Regierung erst die Rentenreform durchsetze und danach prüfen lasse, welche Produkte überhaupt förderfähig seien, sagt ein Manager einer großen deutschen Fondsgesellschaft. "Das ist, als ob Mercedes heute ein Auto verkauft, aber den Preis erst in sechs Monaten nennt."

Das Chaos eröffnet vor allem den Abzockern in der Branche die Möglichkeit, aus der Ahnungslosigkeit kräftig Kapital zu schlagen. Weil kaum ein Verbraucher die Regelungen der "Riester-Rente" begreift, wie ein hochrangiger Banker mutmaßt, beginnt nun die Saison der Provisionsjäger.

Beispiel Versicherung: Nicht hereinfallen sollten die Kunden auf den Hinweis, dass ein Vertrag zugunsten eines neuen gekündigt werden muss, weil der alte nicht "Riester-fähig" sei. Das ist falsch, beschert dem Verkäufer aber eine Abschlussprovision. Beispiel Fonds: Der extrem hohe Ausgabeaufschlag sei notwendig, könnte der Berater sagen - schließlich habe eine sichere Rente ihren Preis. Das ist unseriös, bringt dem Berater aber einen Zusatzgewinn.

Kein Wunder, dass Verbraucherschützer dazu raten, die Angebote der Finanzhäuser in Ruhe zu prüfen. "Wer sich jetzt schon fangen lässt, hat nachher keine Möglichkeit mehr, verschiedene Angebote zu vergleichen", sagt Wolfgang Scholl, Versicherungsexperte der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Und um steuerliche Privilegien für das gesamte Jahr 2002 in Anspruch nehmen zu können, reicht es nach Angaben von Verbraucherschützern aus, sich im Dezember 2002 für ein bestimmtes Produkt zu entscheiden.


Ein Prozent des Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze (derzeit 104 000 Mark) können, so sieht es der Rentenplan vor, die Arbeitnehmer vom kommenden Jahr an staatlich gefördert fürs Alter sparen. Dieser Anteil steigt bis 2008 schrittweise auf vier Prozent. In der Endstufe wird der Staat die Rentensparer mit jährlich mehr als 20 Milliarden Mark fördern. Doch damit die künftigen Senioren später nicht alles auf einmal verprassen, gibt es die amtliche Förderung nur für Produkte, die mindestens die Höhe der eingezahlten Beiträge garantieren und aus diesem Sparkapital eine lebenslange monatliche Rente finanzieren. Ein Dutzend Kriterien schreibt das Regelwerk des Arbeitsministers vor. Die Zertifizierungsstelle prüft allerdings nur, ob der jeweilige Versicherungsvertrag oder Investmentfonds formal die Kriterien erfüllt. Ob die Garantien später tatsächlich eingehalten werden, bleibt offen.

Es ist die Assekuranz, die sich das größte Stück vom großen Kuchen Altersvorsorge erhofft. 60 bis 70 Prozent, schätzt der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GdV), dürften am Markt für private Altersvorsorge künftig auf Versicherungen entfallen. Das hat zwei Gründe: Die klassische Versicherungspolice kommt den von Arbeitsminister Riester aufgestellten Förderkriterien am nächsten. Außerdem baut die Branche auf ihr engmaschiges Netz von Versicherungsvertretern. "Wir garantieren den Kunden, dass unsere neuen Versicherungen ab 2002 gefördert werden", sagt Jürgen Eichelmann, Vorstand beim Marktführer Allianz Leben. "Stellt sich heraus, dass wir die Förderkriterien falsch verstanden haben, behandeln wir die Police wie einen alten Vertrag." Alte Policen, die zum Beispiel schon vor Jahren abgeschlossen wurden, muss jeder Versicherer künftig - wenn es der Kunde will - in einen förderfähigen Vertrag umwandeln. Und zwar kostenlos. 

Wichtigstes Ziel aller Finanzhäuser ist es sowieso, die Senioren von morgen zum ausführlichen Beratungsgespräch zu überreden. Bislang fiel es Banken und Versicherern nämlich schwer, die Finanzlage ihrer Kunden einzuschätzen; vor allem wenn diese mehrere Bankverbindungen und Policen unterschiedlicher Gesellschaften haben. Und nichts braucht ein moderner Finanzkonzern so sehr wie detaillierte Informationen über seine Kunden.

Weil aber nur wenige möglichst viel über sich preisgeben, kauften die Finanzhäuser bisher Informationen von Datenhändlern ein und glichen sie mit den eigenen Daten ab, wie ein Vorstand einer Großbank bestätigt. Nach dem "Riester-Check", wie das Beratungsgespräch für die private Altersvorsorge in der Branche heißt, wird das nicht mehr nötig sein. "Da wird der ganze Haushalt durchgeprüft", sagt ein hochrangiger Manager der Provinzial-Versicherung.

Unbehagen löst die Verkaufsoffensive der Assekuranz- und Finanzbranche aber nicht nur bei Verbraucherschützern aus. Auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verfolgen die Aktivitäten mit Sorge. So warnen IG Metall und Gesamtmetall die Arbeitnehmer gemeinsam vor eiligen Entscheidungen. Die Einmütigkeit der Tarifparteien entstammt nicht nur der Nächstenliebe: Beide wollen die betriebliche Altersvorsorge künftig als ein Instrument der Vergütungspolitik in Tarifverhandlungen nutzen. Heftig umstritten ist allerdings, in welchem Umfang die Arbeitgeber Zuschüsse leisten sollen. Deshalb dürften entsprechende Tarifverhandlungen dauern. Hat aber erst ein Großteil der Versicherten private Verträge abgeschlossen, können die Tarifparteien die Riester-Förderung für ihre Systeme vergessen. Die nämlich gibt es nur einmal.

Jahrzehntelang war die bislang praktizierte betriebliche Vorsorge eine echte Zusatzleistung der Arbeitgeber - und völlig kostenlos für die Nutznießer. Der Vorteil für die Unternehmen: In Höhe der voraussichtlichen Rentenzahlungen durften sie Rückstellungen bilden. Diese minderten den steuerpflichtigen Gewinn und dienten den Betrieben als billiges Fremdkapital. Doch inzwischen haben viele Unternehmen diese Sozialleistung für neue Mitarbeiter ersatzlos gestrichen, weil die Rechnung oft nur so lange aufging, bis die ehemaligen Mitarbeiter ihr Ruhegeld kassierten. 

Wie sich die Arbeitgeber eine betriebliche Altersversorgung vorstellen, hat der Präsident von Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, so skizziert: "Arbeitgeber organisiert, Arbeitnehmer finanziert" - und zwar indem er auf einen Teil seines Einkommens zugunsten einer späteren Betriebsrente verzichtet.

Als Anreiz für die Unternehmen, künftig Betriebsrenten wieder stärker mitzufinanzieren, hat die Regierung in dem Reformwerk ein zusätzliches Bonbon versteckt. Wenn die Arbeitgeber eigene Beiträge zu Pensionsfonds und Pensionskassen leisten, sind diese bereits vom Jahr 2002 an steuer- und sozialabgabenfrei - und zwar je Mitarbeiter bis zu einem Einkommen von vier Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung.

Allerdings, warnt der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsunternehmen Jörg Müller-Stein, könne es nicht so sein, "dass auf normale Lohnerhöhungen noch zusätzlich die Altersvorsorge draufkommt". Das sehen die Gewerkschaften naturgemäß anders. Damit schwinden jedoch die Chancen, dass noch bis Ende des Jahres entsprechende Tarifverträge vorliegen werden. Gibt es die aber bis dahin nicht, dürften die Appelle der Gewerkschaften und Arbeitgeber an die Geduld der Arbeitnehmer kaum noch Wirkung zeigen. In dem Fall hätten die Herren Kaiser und Co. keine Schwierigkeiten mehr, Arbeitnehmer zum Abschluss individueller Verträge zu überreden. Dann, fürchtet auch Kannegiesser, "ist die Messe gelesen".


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