Wie fördert man die soziale Sicherung im Süden?

Von: Hans Gsänger
Der Überblick, März 2001

(First Part)

Die Entwicklungshilfe zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme folgt verschiedenen Konzepten

Arme Länder beim Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung zu unterstützen, ist seit den achtziger Jahren zu einem wichtigen Tätigkeitsfeld der Entwicklungshilfe geworden. Die Geber – insbesondere die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation – folgen dabei unterschiedlichen Leitlinien. Inzwischen zeichnet sich jedoch ein Konsens ab: Gemischte Systeme, an denen der Staat, Selbsthilfegruppen und private Träger beteiligt sind, dürften sich durchsetzen.

Die Geber von Entwicklungshilfe – multilaterale wie bilaterale – haben die soziale Sicherung als Tätigkeitsfeld entdeckt. Zum Beispiel beraten und unterstützen die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) Entwicklungsländer beim Aufbau und bei der Reform von sozialen Sicherungssystemen. Sie vertreten über den einzuschlagenden Weg unterschiedliche Auffassungen, die sich jedoch einander anzunähern scheinen. Auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sieht in der Förderung sozialer Sicherungssysteme einen unverzichtbaren Bestandteil der Armutsbekämpfung.

Den Strukturwandel sozial verträglich zu gestalten, ist ein altes Anliegen. Normen für soziale Sicherung zu entwickeln sowie technische Hilfe für ihre Umsetzung zu leisten, gehört zu den klassischen Aufgaben der ILO. Sie wurde vor über achtzig Jahren gegründet, um internationale Wettbewerbsverzerrungen dadurch zu verhindern beziehungsweise abzubauen, dass Sozial- und Arbeitsnormen gesetzt und beachtet wurden. Dabei war der Blick zunächst auf die alten Industrieländer gerichtet. 1952 wurde das Internationale Übereinkommen über soziale Sicherheit C102 verabschiedet, das Mindestnormen für Leistungen in den Hauptzweigen der sozialen Sicherheit festlegt. Das Übereinkommen ist inzwischen von den meisten OECD-Ländern, zwei Transformationsländern, sieben lateinamerikanischen, drei subsaharischen und zwei nordafrikanischen Ländern sowie einem asiatischen Land ratifiziert worden. Die ILO hat seit den fünfziger Jahren in mehr als 120 Ländern technische Hilfe und Beratung geleistet. Seit Ende des Kalten Krieges beteiligt sie sich mit großem Engagement an den Reformen in den mittelost- und osteuropäischen Transformationsländern.

Dass auch Entwicklungshilfe-Geber sich seit Ende der achtziger Jahre zunehmend in der Reform und Fortentwicklung von sozialen Sicherungssystemen engagieren, hat im Wesentlichen vier Gründe. Der erste ist die Krise der Rentensysteme in den Ländern Lateinamerikas. Diese Systeme brachen im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs der achtziger Jahre weitgehend zusammen, und ihre Reform galt als wesentlicher Baustein für eine erfolgversprechende Strukturanpassungspolitik. Die zweite Anforderung war die Abfederung der sozialen Folgen der Strukturanpassungspolitik der achtziger Jahre in den armen, insbesondere afrikanischen Entwicklungsländern. Die Strukturanpassung ging dort mit einem Verlust an sozialer Sicherheit und mit harten Schnitten in den Leistungen des Gesundheits- und Bildungssektors einher, die soziale Grunddienste zunehmend kostenpflichtig machten.

Drittens verloren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Mittelosteuropas die sozialen Sicherungssysteme im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen ihre wirtschaftlichen und finanziellen Fundamente und brachen zusammen. Und viertens machten die Erfahrungen der Asienkrise von 1997-98 deutlich, dass familien- und gemeinschaftsbasierte informelle Sicherungssysteme – ergänzt um bescheidene staatliche Programme bei einschneidenden wirtschaftlichen Krisen – nicht ausreichen, um den Absturz größerer Bevölkerungsteile in die Armut zu verhindern.

Der Weltsozialgipfel in Kopenhagen von 1995 hat die Bedeutung des Auf- und Ausbaus der sozialen Sicherung als unverzichtbarem Bestandteil der Armutsbekämpfung und einer breitenwirksamen Sozialentwicklung hervorgehoben. Die Politische Erklärung des Gipfels enthält die Verpflichtung, "Politiken auszuarbeiten und umzusetzen, die sicherstellen, dass alle Menschen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Mutterschaft, während der Kindererziehung, bei Verwitwung, bei Invalidität und im Alter einen angemessenen wirtschaftlichen und sozialen Schutz genießen". Über die einzuschlagenden Wege, um ein möglichst hohes Maß an sozialer Sicherung für die Menschen in den Entwicklungsländern zu erreichen, wird international diskutiert.

Diese Debatte steht vor dem Hintergrund gravierender sozialer Veränderungsprozesse, die als die Kehrseite der Globalisierung verstanden werden müssen. Die Arbeitsmärkte haben sich in den neunziger Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas und Asiens zunehmend "informalisiert" – der Anteil formaler Beschäftigung hat zu Gunsten des informellen Sektors abgenommen. In den ehemaligen Wirtschaftswunderländern Südostasiens hat die Finanzkrise Hunderttausende den einst sicher geglaubten Job gekostet und Millionen Menschen erneut in Armut gestürzt. Und in den ländlichen Gebieten Afrikas hat die Masse der Kleinbauern trotz marktwirtschaftlicher Reformanstrengungen mit wachsender wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit zu kämpfen.

Die Anpassungsfähigkeit der armen Menschen ist häufig eindrucksvoll. Trotz schwieriger Umstände gelingt ihnen das Überleben ohne Zugang zu formellen Sicherungssystemen, ohne ausreichend entlohnte Beschäftigung und ohne genügend Einkommen aus Markttätigkeit. Bemerkenswert sind insbesondere die Anstrengungen in vielen Entwicklungsländern, die traditionelle Solidarität kreativ fortzuentwickeln. Einerseits sinkt die Fähigkeit der Familien zur Solidarität wegen schrumpfender Einkommen und eines schwächer werdenden sozialen Zusammenhalts – ausgelöst durch Migration und den damit einhergehenden Wertewandel. Doch andererseits entstehen neue Sicherungsformen, die vor allem von Frauen organisiert werden. Dies ist auch nicht verwunderlich. Denn Frauen werden beim Zugang sowohl zu den formalen Sicherungssystemen als auch zu wichtigen Ressourcen wie Land, Ersparnissen und Bildung diskriminiert; ihre soziale Sicherheit ist in Krisenzeiten zu allererst bedroht.

In vielen Ländern Afrikas ist die Wirtschaft nur gering gewachsen oder gar geschrumpft, und die soziale Unsicherheit ist für große Gruppen armer Menschen und in den großen Städten zugenommen. Vielen wurde der einst relativ sichere Zugang zu Gesundheitsdiensten und Bildung infolge zunehmender finanzieller Belastungen de facto versperrt. Der wirtschaftliche Niedergang beschleunigte den Zusammenbruch der auf traditionelle soziale Gemeinschaften gegründeten Sicherungssysteme. Eine neue Welle der Selbstorganisation in Basisgruppen konnte das nur ungenügend kompensieren. Die formellen Sicherungssysteme, die nur die dauerhaft im modernen Sektor Beschäftigten erreichen, wurden durch die Wirtschaftsflaute weiter geschwächt oder gar vom Staat geplündert.

Die Aussichten für eine Trendwende hängen stark davon ab, ob es gelingt, die afrikanischen Länder auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zurückzuführen. Das ist notwendig, aber nicht hinreichend; zusätzlich müssen die Länder ihre Politik stärker auf Armutsminderung ausrichten, gesellschaftliche Reformen durchführen und eine bedarfsgerechte Bildungs-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik sowie bedürftigkeitsabhängige Unterstützungsleis-tungen für besonders gefährdete Gruppen bereitstellen.

Für Südost- und Ostasien wird immer wieder behauptet, dass gerade die Weigerung der Staaten, enge Sicherungsnetze zu knüpfen, dazu beigetragen habe, dass die sozialen Institutionen wie Familienverbände nach wie vor stark sind. Die asiatischen Gesellschaften seien damit besser gewappnet als die westlichen, schnellen sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu verkraften. Es gibt jedoch viele Hinweise, dass die Wachstumsprozesse dort breitenwirksamer verlaufen sind als etwa in großen Teilen Südasiens. In Südost- und Ostasien wurde relativ früh eine Agrar-, Bildungs- und Gesundheitspolitik einschließlich der Familienplanungspolitik betrieben, die die Startchancen für die arme Bevölkerungsmehrheit entscheidend verbessert hat. Die Asienkrise hat zudem die Schwächen der privaten sozialen Sicherungssysteme offen gelegt. Die betroffenen Länder, wie Thailand und Malaysia, gehen jetzt daran, dieses Systeme durch staatliche zu ergänzen.

Welche Hilfe wird unter diesen Umständen geleistet? Die ILO konzentriert ihre weltweite Hilfe und Beratung auf den Auf- und Ausbau der formellen, staatlichen Sicherungssysteme. Diese bieten vor allem sozialen Schutz für abhängig Beschäftigte in den modernen Wirtschaftssektoren – sie sind meist beitragspflichtig – sowie, meist beitragsfrei, für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und für Militärs. Um den Sicherungsbedürfnissen von großen Teilen der armen Bevölkerung besser zu genügen, zielt die Arbeit der ILO darauf, die Mitgliedschaft in formellen sozialen Sicherungssystemen kontinuierlich zu erweitern, ihr Management effizienter zu machen und Beschäftigte aus dem informellen Sektor einzubeziehen.

Beim Ausbau der sozialen Sicherungssys-teme in Entwicklungsländern sieht sich die ILO vor allem drei Kernproblemen gegenüber. Erstens erreichen die von westlichen Vorbildern geprägten sozialen Sicherungssysteme, die an formelle Dauerarbeitsverhältnisse gebunden sind, nur einen sehr beschränkten Deckungsgrad, und der Wachstumprozess lässt den Anteil der formalen Wirtschaftssektoren und Arbeitsmärkte weniger stark steigen als erwartet. Zweitens besitzen die bestehenden staatlichen Systeme häufig weder eine ausreichende finanzielle Grundlage noch genug Mitglieder, um angemessene Leistungen erbringen zu können; sie sind häufig Kostgänger des Staates. Drittens müssen die Systeme weiterentwickelt und reformiert werden, damit sie sich für neue Mitgliedergruppen öffnen und auf eine gesunde finanzielle Basis gestellt werden können.

Die ILO fordert eine stärkere Berücksichtigung der Sicherungsbedürfnisse von Frauen, die nur sehr geringe eigene Leistungsanrechte aufbauen, da sie meist informell beschäftigt sind oder als Hausfrauen und Mütter systemisch benachteiligt werden. Sie unterstützt in vielen Ländern des Südens und Ostens die Reformanstrengungen der nationalen Sozialversicherungsträger mit technischer Hilfe. Dabei folgt sie unter anderem den Grundsätzen, die Grenzen des fiskalisch und wirtschaftlich leistbaren Niveaus an sozialer Sicherung zu bestimmen, unveräußerbare persönliche Rechte festzulegen und ein Mindestmaß von Schutzansprüchen auf der Grundlage neuer oder angepasster internationaler Standards durchzusetzen.

Die Weltbank hat ihr Engagement im Bereich soziale Sicherung seit den achtziger Jahren kontinuierlich ausgebaut. Zunächst stand die Unterstützung von wachstumskonformen Rentenreformen und die Stärkung sozialer Sicherungsnetze für besonders schutzbedürftige und gefährdete Gruppen durch zielgenaue Interventionen (targeted interventions) im Vordergrund. Bei Rentenreformen empfiehlt die Weltbank mehrgliedrige Systeme mit einer Mischung aus staatlichen und privaten Elementen. Sie unterstützt gegenwärtig Rentenreformen in Ländern Südosteuropas, Zentralasiens und Ostasiens. Die von ihr geförderten sozialen Sicherungsnetze umfassen einen großen Strauß von Maßnahmen: soziale Investitionsfonds, die dem beschäftigungsintensiven Auf- und Ausbau von sozialer und ökonomischer Infrastruktur dienen; Unterstützungszahlungen und Sozialhilfe für gefährdete Familien und Einzelpersonen; Ernährungsprogramme – darunter Nahrungsmittelausgabe gegen Arbeitsleistungen (food for work); sowie Arbeitsbeschaffungsprogramme und Kleinstkredite zur Existenzgründung oder -sicherung.

Derzeit fördert die Weltbank weltweit etwa 100 Vorhaben, die sie dem Arbeitsfeld Soziale Sicherung zuordnet, davon 30 in Afrika, 9 in Südost- und Ostasien, 25 in osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern sowie 17 in Lateinamerika und der Karibik. Die meisten Vorhaben können dem Typus "soziale Sicherungsnetze" im weiteren Sinne zugeordnet werden. Soziale Inves-titionsfonds spielen dabei eine besonders prominente Rolle. Soziale Sicherungsnetze aus Krediten zu finanzieren – auch solchen der Weltbanktochter International Development Agency (IDA), die armen Ländern lange Laufzeiten und niedrige Zinsen einräumt –, trägt allerdings zu steigender Außenverschuldung des Empfängerlandes bei. Denn kurz- bis mittelfristig fließen Darlehen für soziale Netze in den Konsum. Wachstumssteigernde Wirkungen sozialer Ausgaben stellen sich gewöhnlich nur längerfristig ein.

Im Jahr 2000 hat die Weltbank einen umfassenden Ansatz zur Förderung der sozialen Sicherung vorgelegt: eine Sektorstrategie, die den programmatischen Titel trägt "Soziale Sicherung – Vom Sicherheitsnetz zum Sprungbrett". Der neue Förderansatz versteht soziale Sicherung als Summe öffentlicher Interventionen, die dazu beitragen, dass Einzelne, Haushalte und Gemeinschaften ihre vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Risiken besser in den Griff bekommen und besonders Gefährdete und Schutzbedürftige aktiv unterstützen. Arme Frauen und Männer sowie deren Kinder sind meist Mehrfachrisiken ausgesetzt wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Ernteausfällen oder Tod des Ernährers. Sie sind in einer Armutsfalle gefangen, aus der sie allein nicht herauskommen, da sie nicht in der Lage sind, ausreichend Risikovorsorge zu treiben oder die Folgen von Schadensfällen aus eigener Kraft zu mildern. Informelle Sicherungssysteme auf der Grundlage von Vorsorgesparen, Diversifizierung der Produktion, Hilfsnetzen und ähnlichem reichen meist nicht aus, um größere Krisen und Schocks zu bewältigen.

Die neue Qualität des Weltbankansatzes liegt in der pro-aktiven Rolle von sozialer Sicherung: Sicherungssysteme werden nicht vornehmlich als Netze verstanden, die jene auffangen sollen, die auf Grund von Krisen in die Armut abzustürzen drohen, sondern als Netze und zugleich als Sprungbretter, die die Betroffenen sowohl auffangen als auch mit ausreichender Kraft wieder ins produktive Leben zurückfedern. Der neue Ansatz stellt ein integriertes soziales Risikomanagement vor, das auf einer sorgfältigen Analyse der Risiken und ihrer Ursachen aufbaut. Er entwickelt kombinierte Strategien der Risikovorsorge und -minderung sowie Risikofolgenbewältigung, die sowohl informelle als auch privatwirtschaftliche und öffentliche Sicherungsarrangements einschließen. Und er versucht, die Angebote verschiedener Träger wie Familien, Gemeinschaften, nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) und Behörden auf die Bedürfnisse bestimmter Gruppen zuzuschneiden – auf Beschäftigte der formellen Sektoren sowie informelle städtische und ländliche Beschäftigte. Wann sich der neue Ansatz in den Fördermaßnahmen der Weltbank praktisch niederschlägt, muss abgewartet werden.

Es ist historisch nachvollziehbar, dass sich die Weltbank und die ILO auf sehr unterschiedliche Weise der Förderung der sozialen Sicherung genähert haben. Die Weltbank vertraut entsprechend der angelsächsischen Tradition des Liberalismus mehr auf die Marktkräfte, während die ILO stärker der westeuropäischen Tradition der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet ist. Dem entspricht auch die Verfassung der ILO: In ihren Organen sind sowohl die Regierungen und Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer vertreten.

Die Weltbank hat sich dem Tätigkeitsfeld soziale Sicherung aus der Sicht einer Finanzierungsinstitution genähert, die in der wachstumsfördernden Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der staatlichen Rentensysteme, einen wichtigen Beitrag zur Lösung vieler Investitions- und Finanzierungsprobleme sieht. Die Rentenreform in Chile von 1981 kam Vorstellungen der Weltbank in den achtziger Jahren wohl am nächsten. Dieses Modell fußt auf einer privaten Trägerschaft des Rentensystems und darauf, dass die Versicherten individuell für ihr Alter sparen; das wird durch ein spärliches staatliches Sicherheitsnetz ergänzt. Das Modell Chile wird unter anderem von der ILO kritisiert, weil es Risiken privatisiert, das heißt zu einer Entsolidarisierung führt; das Umverteilungsziel von Sozialversicherungssystemen wird quasi aufgegeben. Außerdem entstehen den Versicherten aus der Anlagepolitik unwägbare Risiken.


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