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Chile: Hoffnung auf eine ungewisse Zukunft
Von: Katja Hujo
Der Überblick, März 2001
Die Reform des Rentenversicherungssystems in Chile ist Vorbild für weitere Länder in Lateinamerika
Der zunehmende Anteil alter Menschen an der Weltbevölkerung stellt die Gesellschaften vor erhebliche Probleme. Schon in naher Zukunft wird die bisherige Finanzierungsweise der Rentenkassen nicht mehr funktionieren. Als ein Beispiel für eine gelungene Reform galt jahrelang die der Rentenversicherung in Chile ab 1981. Viele Länder in Lateinamerika haben Reformen nach diesem Modell begonnen. Doch mittlerweile zeigen Erfahrungen, dass auch der chilenische Weg keine ideale Lösung
ist.
Die chilenischen Reformer versprachen sowohl höhere Renten als auch geringere Beitragssätze und eine langfristige Entlastung des Staates. Zusätzlich betonten sie die positiven gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, die ein privat verwaltetes, kapitalgedecktes Rentensystem für Wachstum und Kapitalmarktentwicklung biete. Durch hohe Ersparnisse im heimischen Finanzsektor (zu dem ja auch die Pensionsfonds zählen) könnten die Mittel bereitgestellt werden, die für Investitionen und damit mehr Wachstum dringend benötigt würden. Diese Argumentation wurde Ende der achtziger Jahre von den internationalen Gläubigerinstitutionen im Rahmen ihrer Strukturanpassungsprogramme erneut aufgegriffen.
1994 publizierte die Weltbank eine umfassende Studie zum Thema Alterssicherung, in der sie die dreisäulige Struktur der chilenischen Rentenversicherung als Lösung für die globale Krise der staatlichen Alterssicherungssysteme propagiert. Sie traf mit ihrer Botschaft "Schütze die Alten und fördere dabei das Wirtschaftswachstum" im Umfeld der wirtschaftlichen und politischen Transformation der neunziger Jahre auf offene Ohren: In Lateinamerika hatten sich die Probleme der staatlichen Sicherungssysteme während der Verschuldungs- und Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren extrem zugespitzt. In Argentinien wurden zum Beispiel statt gesetzlich festgelegter Rentenleistungen in Höhe von 70 bis 82 Prozent der früheren Löhne oder Gehälter nur noch Mindestrenten ausgezahlt, die kaum zum Überleben reichten. Eine Welle von Gerichtsprozessen, tägliche Demonstrationen von Rentenempfängern und der völlige Verlust an Vertrauen in die staatliche Rentenversicherung waren die Folge.
Als Anfang der neunziger Jahre in vielen Ländern der Region neoliberale Stabilisierungsprogramme umgesetzt wurden, erschien für eine Reihe von Regierungen der Zeitpunkt gekommen, die abgewirtschafteten Rentensysteme durch etwas (fast) Neues zu ersetzen und dadurch den internationalen Gläubigern und der eigenen Bevölkerung Reformfähigkeit zu demonstrieren. Die Rentenreformen der zweiten Generation sind dennoch keine reinen Kopien des chilenischen Modells, sondern spiegeln die länderspezifischen Bedingungen und Reformüberlegungen wider. Gemeinsames Merkmal der neuen Systeme ist die Einführung privater Rentenfonds auf Basis individueller Kapitaldeckung, die in Peru 1993 und Kolumbien 1994 als Wahlmöglichkeit neben einem öffentlichen, umlagefinanzierten System eingeführt wurden. In Argentinien, wo private Rentenfonds 1994, und in Uruguay, wo sie 1996 eingeführt wurden, ergänzten sie die staatliche, umlagefinanzierte Grundsicherung. In Bolivien, Mexiko (1997) und El Salvador (1998) ersetzten sie wie beim chilenischen Modell das staatliche Umlagesystem vollständig.
Mit Ausnahme von Peru wurden die Rentenreformen der zweiten Generation in allen Ländern in einem breiten demokratischen Prozess verabschiedet. Es zeigt sich, dass eine breite Beteiligung von Interessengruppen und der Versuch einer gesellschaftlichen Konsensfindung eher zu kombinierten Modellen geführt hat. Bei diesen steht entweder die staatliche Rentenversicherung in Konkurrenz zu privaten Anbietern, oder eine staatliche Umlagefinanzierung wird mit privaten Rentenfonds gemischt. Diese Kompromisslösungen gelten als politisch eher akzeptabel und in den fiskalischen und sozialen Auswirkungen als weniger radikal und berücksichtigen bereits chilenische Erfahrungen, wo die Reform zu einer Reihe von Problemen geführt hat.
Hinsichtlich der sozialen Leistungen haben sich die Erwartungen in Chile bisher nicht erfüllt. Der Anteil der Bevölkerung, der mit Rentenleistungen rechnen kann, wurde nicht ausgeweitet. Nur Arbeitnehmer im formellen Sektor sind versicherungspflichtig. Selbstständige können dem System zwar freiwillig beitreten, jedoch ist die Beitragsbelastung für den informellen Sektor zu hoch. Da zudem nur rund 50 Prozent aller Versicherten regelmäßig Beiträge zahlen, ist zweifelhaft, ob das angesparte Kapital im Alter eine ausreichende Rente ergibt. Offen bleibt auch, wie viele später Anspruch auf die garantierte Mindestrente haben werden, denn diese setzt zwanzig Beitragsjahre voraus. Die garantierte Mindestrente und die Sozialrenten betragen ohnehin nur rund 22 Prozent beziehungsweise 12,5 Prozent des Durchschnittslohns und dürften damit unter dem zum Überleben Notwendigen liegen.
Über die Höhe der zukünftigen Renten aus den privaten Fonds kann keine zuverlässige Aussage gemacht werden. Bisher sind diese Renten noch durch die großzügigen Übergangsbestimmungen und die hohen Renditen auf dem Kapitalmarkt im vergangenen Jahrzehnt bestimmt. Dagegen ist das Durchschnittsrentenniveau in Zukunft völlig unklar, weil die Risiken der Alterssicherung überwiegend auf den Einzelnen verlagert worden sind, also von persönlichen Risikomerkmalen jedes Versicherten abhängen. Offen bleibt auch, wie sich die Kurse und damit die Renten entwickeln, wenn künftig mehr Rentner Kapital für ihre Rente abziehen, aber weniger junge Leute Kapital einzahlen.
Auch ohne den Kreis der Empfänger auszuweiten, sind die Kosten des Systemwechsels für den Staat schon beträchtlich, da laufende Renten aus dem alten Umlageverfahren ausgezahlt sowie bereits erworbene Rentenansprüche zurückgezahlt werden müssen, wenn sich der Staat ganz aus der Rentenversicherung zurückzieht. Die Kosten für die staatlich garantierte Mindestrente könnten ebenfalls ein hohes Niveau erreichen, weil viele Versicherten, insbesondere die mit geringem Einkommen, auf die Mindestrente spekulieren. Die Effizienz des privaten Versicherungsmarktes – so zeigen bisherige Erfahrungen – ist auf Grund von Konzentrationstendenzen sowie hoher Verwaltungskosten ebenfalls geringer als von den Reformern erwartet.
Letztlich ist auch fraglich, wieviel die Rentenreform zum Wachstumserfolg Chiles seit den achtziger Jahren beigetragen hat. Dies kann weder empirisch noch theoretisch eindeutig belegt werden. Weniger umstritten ist hingegen ein positiver Impuls auf die Entwicklung des chilenischen Kapitalmarktes und Finanzsektors: Immerhin hat das Fondskapital Ende 1997 bereits rund 44 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (32,9 Milliarden US-Dollar) erreicht, sodass sowohl angepasste Anlageinstrumente als auch eine funktionierende Aufsicht entwickelt werden musste.
Die neuen Rentensysteme in den übrigen lateinamerikanischen Ländern haben zwar versucht, bestimmte Mängel des chilenischen Modells zu vermeiden. Das ist jedoch nur in begrenztem Maße gelungen und auch nur begrenzt möglich. Die sogenannten Übergangskosten bei einem Umstieg auf das Kapitaldeckungsverfahren bedeuten in jedem Fall eine kurz- bis mittelfristig hohe fiskalische Belastung für alle Reformländer. Anders als in Chile können aber die meisten Regierungen bei der Finanzierung nicht auf Budgetüberschüsse oder Privatisierungserlöse zurückgreifen.
In Argentinien wurde versucht, über private Rentenfonds die Wirtschaftsentwicklung zu stimulieren und den Staat langfristig zu entlasten. Gleichzeitig sollte jedoch auch die solidarische Komponente der Sozialversicherung über eine für alle Versicherten gleich hohe Grundrente sowie die Wahlmöglichkeit garantiert werden, in der staatlichen Rentenversicherung zu bleiben. Nach sechs Jahren stellte sich der Versuch als nicht finanzierbar heraus. Als Ergebnis werden die staatlichen Leistungen immer weiter gekürzt, sodass am Ende das chilenische Modell übrig bleibt.
Ebenfalls gibt es in allen Ländern das Problem des Oligopols. Wenige Rentenfondsverwalter teilen sich den Markt, in Bolivien haben sich sogar nur zwei Pensionsfonds etabliert. Wechselmöglichkeiten für die Versicherten sind nicht vorgesehen. Dafür sind allerdings in Bolivien die Verwaltungskosten im Vergleich zu den anderen Reformländern sehr niedrig. Im Durchschnitt werden in Lateinamerika zwischen 20 und 30 Prozent der Beitragseinnahmen für die reinen Verwaltungskosten und die Kosten der Vermögensverwaltung verbraucht.
Eines der Hauptprobleme der lateinamerikanischen Rentenversicherungen ist, dass ein großer Teile der Bevölkerung nicht abgesichert ist. Dieses Problem konnte durch die Privatisierungen ebenfalls nicht gelöst werden. Die Beschäftigten im informellen Sektor und ein großer Teil der Landbevölkerung, der am Existenzminimum lebt, bleiben weiterhin ausgeschlossen. Ferner werden Zeiten ohne Beitragszahlung infolge von Arbeitslosigkeit, Kindererziehung oder Krankheit nicht ausgeglichen. Der geringe Anteil an Beitragszahlern und die Tatsache, dass die Zugangskriterien (Mindestbeitragsjahre, Renteneintrittsalter, Rentenformel) in den neuen Rentenmodellen bereits vor dem Systemwechsel verschärft worden sind, erhöht das Risiko von Altersarmut und kann die finanzielle Belastung des Staates in Zukunft weiter vergrößern.
Schließlich stellt sich die Frage, ob in Ländern wie Bolivien, El Salvador oder Peru der Finanzsektor in ausreichendem Maße entwickelt ist, um den Pensionsfonds sichere und rentable Investitionsmöglichkeiten zu bieten. Statt der Privatwirtschaft langfristiges Investitionskapital zur Verfügung zu stellen, ist es eher wahrscheinlich, dass über die Hintertür das staatliche System bestehen bleibt, weil fast ausschließlich in staatliche Wertpapiere investiert wird. Überdies muss beachtet werden, dass gerade in den sich rasch entwickelnden Märkten der Schwellenländer große Schwankungen auf den Kapitalmärkten zu verzeichnen waren und wohl auch künftig zu erwarten sind. Die internationalen Finanzkrisen der letzten Jahre haben in Lateinamerika zu starken Kursv
erlusten an den Börsen und Krisen im heimischen Bankensektor geführt, sodass trotz der langfristig bisher hohen Verzinsung des Versichertenkapitals ein paar Jahre lang Verluste statt Zinsgewinne hingenommen werden mussten.
Die Probleme und Risiken in den neuen lateinamerikanischen Rentensystemen sind vielfältig, die Kosten für den Systemwechsel hoch. Dass sich so zahlreiche Ländern in den letzten Jahren dennoch für diesen Weg entschieden haben, liegt unter anderem an der Hoffnung, dadurch das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, bei internationalen Kreditgebern besser dazustehen und Reformblockaden im eigenen Land zu überwinden. Markt statt Staat, das ist die Zauberformel vor allem in Ländern, in denen die Bevölkerung den Staat als Bereicherungsinstrument der herrschenden Klasse betrachtet hat. Privatisierung hingegen bedeutet ownership, eigene Teilhabe, gleiche Regeln für alle und die Hoffnung auf den Erfolg des Marktes statt des Wissens, dass der Staat seine großen Rentenversprechen doch nie einlösen wird.
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