Wie fördert man die soziale Sicherung im Süden?

Von: Hans Gsänger
Der Überblick, März 2001

(Second Part)

1994 hat die Weltbank ihre Vorstellungen zur Alterssicherung in einer grundlegenden Studie Averting the Old-Age Crisis dargelegt und zur Alterssicherung ein Drei-Säulen-Modell empfohlen. Die erste Säule besteht aus einer steuerfinanzierten Grundrente, um Altersarmut abzuwenden (diese Rente kann eventuell auf die Gruppe der Bedürftigen beschränkt werden). Die zweite Säule stellen entweder gesetzliche Betriebsrenten oder gesetzliches (das heißt obligatorisches) individuelles Sparen. Die dritte setzt sich aus freiwilligen privaten Zusatzversicherungen zusammen. Mit diesem Drei-Säulen-Modell versucht die Weltbank, den unterschiedlichen Zielen, die soziale Sicherungssysteme verfolgen, in wachstums- und marktkonformer Weise gerecht zu werden: Die erste Säule bewirkt eine soziale Umverteilung, doch erreicht die Rente nur Sozialhilfeniveau; die zweite Säule fördert das Sparen und die Kapitalbildung zur Entwicklungsfinanzierung und sollte von privaten Fondsmanagern verwaltet werden; und die dritte dient der Sicherung des gewohnten Lebensstandards durch Eigenvorsorge. Einige der von der Weltbank unterstützten Rentenreformen finanzieren die erste Säule – die aber nur eine Mindestsicherung anstrebt – im Umlageverfahren statt aus Steuern.

Die ILO hat sich den Problemen der sozialen Sicherungssysteme als normensetzende Institution genähert: Sie achtet darauf, dass ihre Reformvorschläge in Einklang mit internationalen Arbeits- und Sozialnormen stehen. Bei der Alterssicherung – einem Streitpunkt mit der Weltbank – favorisiert sie ein Vier-Säulen-Modell, das mit den internationalen Normen und Standards vereinbar ist. Die vier Säulen sind erstens eine steuerfinanzierte Grundsicherung für Bedürftige; zweitens eine öffentlich betriebene, einkommensabhängige und beitragsfinanzierte Sozialversicherung mit Umlageverfahren, die etwa ein Rentenniveau von der Hälfte des durchschnittlichen Lebensverdienstes bietet; drittens eine kapitalgedeckte Pflichtversicherung, die privat betrieben wird; und viertens eine ergänzende freiwillige Versicherung. Ähnliche Vorstellungen liegen auch der jüngsten deutschen Rentenreform zu Grunde.

Dem Argument, dass eine umlagefinanzierte Sozialversicherung wegen der Alterung der Gesellschaft – die ja auch in den Entwicklungsländern schon mittelfristig ein Problem sein wird – langfristig nur mit immer höheren Beitragssätzen und öffentlichen Zuschüssen finanzierbar sei und daher ein vollständig kapitalgedecktes System vorzuziehen sei, hält die ILO zwei Überlegungen entgegen. Zum einen muss der Lebensstandard der Rentner immer aus den jeweiligen Einkommen der Aktiven erwirtschaftet werden, gleichgültig ob die Renten durch Umlagefinanzierung oder durch individuelles Sparen finanziert werden. Wenn die Renten über öffentliche Finanzierungsmechanismen geleistet werden, dann müssen mit der Alterung die Rentenbeiträge steigen. Werden sie aber aus angespartem Kapital finanziert, dann müssen die angesammelten Finanzguthaben der Rentner nach und nach aufgelöst, das heißt an neue Sparer verkauft werden, damit die Rentner ausreichend Geld erhalten. In beiden Fällen sind aber die erforderlichen Finanzierungsmittel gleich hoch.

Zum anderen verletzt laut der ILO ein System, unter dem Rentenansprüche individuell abgespart werden, etablierte Normen der sozialen Sicherung, wie sie im Internationalen Übereinkommen über Soziale Sicherheit festgelegt sind. Dort wird gefordert, dass die Renten in ihrer Höhe bestimmt und garantiert sein müssen. Renten, die sich vornehmlich auf Sparen gründen, erfüllen in der Regel diese Voraussetzungen nicht. 

Die unterschiedlichen Traditionen von ILO und Weltbank zeigen sich auch bei der Einschätzung, wie tragfähig selbsthilfeorientierte Ansätze der sozialen Sicherung – zum Beispiel von Selbsthilfeorganisationen betriebene Kleinstversicherungen – für den Schutz vor typischen Lebensrisiken wie Krankheit, Verlust der Erwerbsmöglichkeiten oder Verwitwung sind. Auch die Rolle der privaten Versicherungswirtschaft wird verschieden gesehen: Die Weltbank neigt eher zu Marktlösungen, während die ILO für eine stärkere Beteiligung des Staates ist.

Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Weltbank und ILO tragen zu einer gewissen Beratungskonkurrenz bei, die den internationalen Diskurs beflügelt und reformwilligen Entwicklungsländern durchaus zugute kommen kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Bank als internationale Finanzierungsinstitution ihre Möglichkeit, finanzielle Unterstützung zu geben, nicht gegen die ILO ausspielt, die nur technische Hilfe und Beratung anbieten kann. Die immer stärkere Hinwendung der Weltbank zu umfassenden Ansätzen der Armutsbekämpfung führt allerdings zu vielschichtigen sozialpolitischen Förderansätzen, die die ideologischen Fronten zu Guns-ten pragmatischer Zusammenarbeit auflösen.

In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wächst das Tätigkeitsfeld "Förderung der sozialen Sicherung" seit 1993 langsam. Die Hauptzielgruppe sind arme Bevölkerungsgruppen. Das vorrangige Ziel ist, strukturbildend zu wirken. Bei Vorhaben auf der Makroebene kommt es der deutschen Hilfe darauf an, einen Beitrag zur Verbesserung der nationalen Rahmenbedingungen zu leisten, damit die Bevölkerung vermehrt Eigenvorsorge gegen wirtschaftliche und soziale Risiken treffen kann. Wichtige Ansatzpunkte hierfür sind zum Beispiel die gezielte Förderung des Gesundheits- und Bildungswesens, der Familienplanung sowie der Wasserversorgung. Außerdem wird die Zusammenarbeit zwischen dem Staat, Selbsthilfeorganisationen, NGOs und der privaten Versicherungswirtschaft gefördert.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat im Bereich der sozialen Sicherung mehrere Schwerpunkte. Sie unterstützt den Aufbau von Versicherungssystemen auf Gegenseitigkeit wie beim Beispiel der SEWA (siehe Kasten) oder von dezentralen Krankenversicherungssystemen zum Beispiel auf den Philippinen. Sie berät Regierungen und öffentliche Institutionen auf dem Gebiet der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung – zum Beispiel in Venezuela. Sie bietet sozialpolitische Regierungsberatung in Ländern Afrikas, um geeignete Rahmenbedingungen für eine bessere soziale Sicherung unter Einschluss der informellen Systeme zu fördern – so in Kenia, Malawi, und Kamerun. Und sie bildet Fachkräfte von Behörden und NGOs fort.

Neben staatlichen Trägern wie der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) sind insbesondere die Kirchen, aber auch die politischen Stiftungen in der Förderung der sozialen Sicherung tätig. So fördern kirchliche Hilfswerke Spar- und Kreditvereine und Basisgesundheitsdienste mit Krankenversicherung; die politischen Stiftungen unterstützen den sozialpolitischen Dialog, die Reform der sozialen Sicherungssysteme in Ländern wie China, Kolumbien und El Salvador sowie die Rechtsberatung zur Erhöhung der sozialen Sicherung in afrikanischen Ländern.

Im Gegensatz zu den weltweit tätigen multilateralen Organisationen Weltbank und ILO konzentriert sich die deutsche Hilfe auf dem Gebiet der sozialen Sicherung auf ausgewählte Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass jedes Land über die Struktur seiner sozialen Sicherungssysteme entsprechend der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten selbst entscheiden muss. Standardlösung gibt es nicht. Bestehende staatliche Versicherungssysteme müssen zügig ausgebaut und effizienter gestaltet werden, doch ist es offensichtlich, dass ein Großteil der bislang Ungesicherten noch lange auf eine Stärkung vorhandener beziehungsweise auf neue dezentrale und lokale Sicherungssysteme angewiesen bleibt. Deshalb setzt die deutsche Entwicklungshilfe auf die Unterstützung von selbstorganisierten Versicherungssystemen, die langsam an die formellen Versicherungen herangeführt werden. Das ist trotz der beschränkten Leistungsfähigkeit dieser Systeme richtig. Da diese kleinen Systeme auf Dauer nicht selbstständig bestehen können, ohne vernetzt und bei formellen Versicherungen rückversichert zu sein, müssen sich auch diese für eine engere Zusammenarbeit öffnen. Dieser Verknüpfungsansatz ist ein wesentliches Kennzeichen des deutschen Beitrags zum Ausbau der sozialen Sicherungssysteme in Entwicklungsländern. Bislang ist er jedoch in nur sehr wenigen Fällen umgesetzt worden.

Aus den Erfahrungen der verschiedenen Geber lässt sich bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte folgendes schließen: Das Leitbild eines Systems der sozialen Sicherung, in dem sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche und gemeinnützige Träger einander ergänzende Rollen spielen, wird sich durchsetzen. Dabei müssen die Sicherungsbedürfnisse der armen Bevölkerungsgruppen, die ihren Lebensunterhalt als ländliche oder städtische Selbstständige oder im informellen Sektor verdienen, angemessen berücksichtigt werden und die Versicherungsleistungen bezahlbar bleiben. Dies dürfte am besten gelingen, wenn kleine, dezentrale, aber miteinander vernetzte Sicherungssysteme entwickelt und gefördert werden, die auf der kreativen Fortentwicklung traditioneller Sicherungsformen aufbauen, und zugleich die großen staatlichen Systeme für neue Mitgliedergruppen geöffnet werden.

Ein umfassendes armutsorientiertes System der sozialen Sicherung sollte die wichtigsten Risiken abdecken und die Möglichkeiten der Eigenvorsorge stärken. Das bedeutet im Einzelnen: Bei der Krankenversicherung ist den Armen besser gedient, wenn das Risiko schwerer Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt versichert wird, als mit der Versicherung einer Vielzahl von kleinen Erkrankungen, die sie durchaus selbst bewältigen können. Bei der Alterssicherung wird der größte Teil der Armen kaum Nutznießer formeller Systeme werden, denn die meisten Armen sind nicht in den formellen Sektoren tätig. Umso wichtiger ist es, dass eine armutsmindernde Politik die Vorsorgekapazität stärkt und dass funktionierende Kapitalmärkte das Alterssparen lohnend machen.

Was den Schutz gegen Arbeitslosigkeit angeht, empfiehlt sich die Einführung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung für die meisten Entwicklungsländer nicht, da deren Arbeitsmärkte durch ein sehr hohes Maß an informeller Beschäftigung gekennzeichnet sind. Um den bedürftigen Arbeitslosen zu helfen, sind eher Arbeitsbeschaffungsprogramme geeignet, die so gestaltet sind, dass sie vor allem für die Bedürftigen attraktiv sind.

Kleinstkreditsysteme können den Armen helfen, ihren Konsum während der Dauer von Krisen aufrechtzuerhalten. Von großer Bedeutung für selbstständig und unternehmerisch Tätige ist insbesondere die Sicherheit, im Ernstfall Zugriff auf Kredit zu haben.

Barleistungen schließlich sind vielfach Bestandteil der formellen Sicherungssysteme, einschließlich der Sozialhilfe. In Ländern mit einem hohen Anteil des informellen Sektors empfehlen sich unter Umständen Barleistungen auf der Grundlage einer Bedürftigkeitsprüfung. In welchem Umfang diese gewährt werden können, hängt von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes ab. 


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